Kapitel 2
Im Feld hinter ihm wurde der Mais geerntet. Der gleichbleibende Sound des Maishäckslers, das Motorengeräusch des begleitenden Transportanhängers, in den der gedroschene Mais über ein Abtankrohr entladen wurde, hatte etwas Friedliches. Werner Jansen jedoch empfand die Maisernte als Vorbote für ein Ereignis, das in seinen Augen ein Verbrechen war.
Er neigte sich vor und lächelte zufrieden beim Anblick Leons, der dem „heulenden Ungeheuer" im Feld nicht die geringste Beachtung schenkte. „Bist ein gescheiter Hund. Hast schnell gelernt.“ Er tätschelte Leons Kopf.
Bei den Worten seines Herrn schaute Leon hoch.
Werner sah in braune Augen, sah das Vertrauen und empfand dieses Glücksgefühl, dass es ihm gelungen war, den Hund vor seinem brutalen Herrn zu retten. Liebte er ihn deshalb mehr als die anderen? Nur ein wenig, beruhigte er sein schlechtes Gewissen.
Dünne Dunstschleier, durch das Abtanken hervorgerufen, stäubten durch die Luft. Leon schnupperte, nieste und senkte die Schnauze dann auf die gekreuzten Vorderpfoten.
Nicht weit entfernt krachten Schüsse.
Leon hetzt einem Hasen nach. Er kehr zurück. Aber sein Herr ist nicht mehr an dem Platz, wo er ihn verlassen hat.
Leon wich zur Seite, drehte um und trabte auf der eigenen Spur zu der Stelle zurück, wo er seinen Herrn verlassen hatte. Der Platz war leer, sein Herr auf Sichtweite nicht auszumachen. Leon strich an der Bank entlang und der Geruch nach Blut stieg ihm in die Nase. Er senkte die Nase zu Boden und nahm den gleichen Geruch wahr. Er hob den Kopf, sog die Luft ein, in der er jetzt seinen Herrn witterte. Die Nase wieder am Boden folgte er vertrauten Duftpartikeln. Plötzlich brach die Spur ab. Leon war bis zu dem Maisfeld vorgedrungen. Er roch die reifen Körner, hörte Bersten und das Brechen der starken Maisstauden und empfing die stechende Ausdünstung eines Wildschweines. Leons Körper vibrierte. Loshetzen!
Das Krachen eines Schusses.
Er duckte sich. Pulverstäubchen wehten zum ihm, ein Gemisch verschiedener Düfte, aus denen er seinen Herrn wahrnahm und etwas anderes, bei dem sich Leons Nackenhaare aufstellten.
Er stand, hob die Nase in die Luft und ortete die Richtung, die ihn auf die Fährte seines Herrn brachte. Vorsichtig trabte er über einen abgeernteten Teil des Feldes, vermied die spitzen Strünke der Maiskolben, indem er in der Ackerfurche daneben blieb und stoppte plötzlich. Unsicher umkreiste er den Körper, der auf dem Boden lag. Er beschnüffelte das frische Blut. Stupste seinen Herrn an, der sich nicht rührte. Leon leckte das Ohr ab, kratzte mit der Pfote über den Rücken. Doch sein Herr blieb regungslos liegen. Schnuppernd nahm Leon den Totengeruch wahr, der ein Verhalten ihn ihm wachrief, mit dem er eine angenehme Erfahrung verknüpfte. Futter. Er setzte sich auf die Hinterhand und bellte, lautstark, ausdauernd, bis sein Meuteführer eintraf.
Dumpfe Erschütterungen auf harten Boden. Schweres Stampfen. Zweige knickten, dürre Halme raschelten. Freundlich tönte die Stimme. „Braver Hund.“
Der Klang war Leon so vertraut wie der Mensch, der nun vor ihm stand. Er schnüffelte an den Stiefeln, die nach geronnenem Blut und Aas rochen.
„Das einzige, was ich dir beibringen konnte. Weil es was zu fressen gab, unnützer Köter.“ Die Tonlage hatte sich verändert. Leon spürte die Bedrohung, die von dem Körper, der sich über ihn beugte, ausging.
Er duckte sich, winselte. Er sah die Hand auf sich zukommen. Er duckte sich tiefer. Die Hand hielt rohes Hasenfleisch, das der Mensch vor seiner Nase hin- und herschwenkte. Instinktiv wollte Leon danach schnappen, aber er roch auch das Pulver, das Metall und den Schweiß, der Angst und Wut ausströmte.
„Nimm schon!“ Ungeduld unter der ruhigen Stimme.
Leon beschnupperte das Fleisch, zuckte zurück.
„Soll ich es dir in den Schlund stopfen!“ Unsicherheit und Wut.
Die widersprüchlichen Sinneseindrücke ließen Leon laut aufheulen.
„Halts Maul!“ Das Fleisch klatschte auf seine Schnauze.
Der intensive Geruch löschte die Verwirrung und der Instinkt zu fressen siegte. Leon schnappte zu und schlang es herunter. Im selben Moment traf ihn ein so starker Dunstschwall aus Feindschaft und Bedrohung, dass er jaulend aufsprang und flüchtete.