Mordsweiber
Clutch-and-crime


Die Jagd


 Sie saßen sich gegenüber. Auge in Auge. Werner Jansen hockte auf der alten Truhe, die im Flur stand. Stille. Nur das Ticken der Standuhr. Werner Jansen wurde unruhig. Er rutschte nach vorn, saß auf der Kante. Er klammerte sich fest, presste die Lippen aufeinander und hatte Mühe, den Lachreiz zu unterdrücken. Dann schlug es elf Uhr. Der Gong dröhnte durch den langen Flur und Werner Jansen verlor endgültig die Fassung. Lachfalten gruben sich in seine Augenwinkel, während Leon nicht einmal blinzelte. Werner gab sich geschlagen. „Gewonnen, mein Junge!“ Er stand auf, zog  die Wanderschuhe an und die braune Wachsjacke, dazu die dunkle Kappe mit den Ohrenklappen. So gewappnet griff er nach der Leine. Leon sprang freudig bellend an ihm hoch. Werner tätschelte den Kopf des Hundes. „Ich könnte dich auch gleich anleinen. Aber so ist es spannender. Und irgendwann blinzelst du zuerst.“ Werner musste feststellen, dass dem Hund Wettbewerbsdenken schnurz war. Aufgeregt zog der Hund zur Tür. Doch bevor Werner Jansen das Haus verließ, warf er noch einen Blick in die Küche. Der Steinfußboden war unter Hundedecken kaum sichtbar. Acht Augenpaare sahen erwartungsvoll auf den Mann, der den Kopf durch den Türspalt steckte. „Hannchen, Leon und ich machen einen Spaziergang. Der Freilauf ist pitchnass und der Hund  muss mal wieder Zeitung lesen.

"Du musst dich nicht rechtfertigen. Ein Spaziergang wird dir auch gut tun."
Werner druckste herum. "Hast du die Hunde gefüttert?“
Hanna, ein Messer in der Hand, schob Haarsträhnen zurück und sah ihren Mann gekränkt an. „Rate.“
„Entschuldige, Liebe, dumme Frage.“
Hannas rosiges mädchenhafte Gesicht strahlte Werner an. „Denkst du wirklich, ich könnte die Hunde vergessen“, sagte sie in gespielter Entrüstung. "Bist du zum Mittagessen zurück?“
„Ach …“ Werner wand sich. „Ich wollte im Wirtshaus essen. Das Wetter ist heute zu schön. Ich möchte einen längeren Spaziergang machen."
„Ja, ja. Geh schon“, unterbrach Hanna, schenkte Werner ein verständnisvolles Lächeln und widmete sich Gemüse und Schneidebrett.
Werner ging gemächlich den Fahrradweg entlang, blieb geduldig stehen, solange, bis Leon ausgiebig den Seitenrand beschnüffelt hatte. Werner war überzeugt, dass Leon auch noch nach drei Jahren wusste, dass er dem Mann neben ihm, seine Rettung verdankte. Jedenfalls war Werner überzeugt, dass der Hund diesen Tag niemals vergessen würde. Er wusste es, wenn Leon ihn anschaute, ihm voller Vertrauen seinen Hundeblick in die Seele legte.
Plötzlich dröhnte es hinter ihnen. Rauschen, ein hoher trillernder Ton dazwischen. Werner ging zur Seite, zog Leon eng an sich heran und hielt den Hund sanft gegen die Knie gepresst. Der Hund verharrte reglos. Das grollende Etwas entfernte sich. Leon stieg in die Leine, bereit, hinterherzujagen. „Lass!“ Werner drückte den Hund energisch runter. "Diesem Wild, Leon,", sagte er streng, "darfst du niemals hinterherhetzen." Leon schien zu begreifen.
Die Gefahr war vorbei. Werner lockerte den Griff, entrollte die Leine und ging weiter. Am Ende des Radweges angelangt sah er auf die Uhr. „Den Rundweg schaffen wir noch, was meinst du?“ Leon bellte zustimmend.
Nachdem es in den vergangenen Tagen geregnet hatte, übernahm nun die Sonne das Regiment und begehrte mit letzter Kraft gegen den Herbst auf. Die Luft war schwül. Werner japste. „Ich schlage eine Pause vor, mein Junge.“ Er ließ sich auf einer der Bänke, die an dem Weg aufgestellt waren, nieder und streckte die Arme auf der bemoosten Holzlehne aus. Er legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.
Leons Leine hatte er nachlässig um das Handgelenk geschlungen. Sie hing schlaff herab. Der Hund legte sich träge auf die Seite, streckte die Hinterbeine aus, winkelte die Vorderbeine an und drückte den Kopf gegen die Stiefel seines Herrn.
Werner lauschte den Schreien eines Bussardes, die durch die Luft stürzten. Rascheln im Gras – vielleicht eine Maus. Er genoss es, unterwegs zu sein. Ein Mann und sein Hund. Leon liebte er besonders. Eine Liebe, in der ein heimlicher Triumpf nistete.
Deutlich stand Werner die Situation vor Augen, als er damals durch die Felder spazierte. Von weitem hörte er das Jaulen eines Hundes, in das sich wütendes Geschrei mischte. Werner Jansen hetzte zu der Stelle, erkannte, was der Bauer Karl Beermann vorhatte, und stellte sich zwischen ihn und den am Boden liegenden Hund, auf den Beermann zielte. Beermann hob den Lauf und bedrohte den Störenfried. „Verrückt geworden!“, brüllte er zornig. „Misch dich nicht ein, verdammter Psychodoc. Es ist mein Hund, er taugt nicht zur Jagd. Wenn ich ihm eine Kugel verpassen will, geht dich das einen Dreck an.“
„Nenn mir deinen Preis, Karl. Ich kaufe dir den Hund ab.“ Werner schmunzelte in Erinnerung daran, wie seine kaltblütige Art Beermann aus der Fassung gebracht hatte und er zähneknirschend einen Betrag nannte. „Ich überweise ihn sofort. Du vertraust mir doch , Karl?“
Karl Beermann überspielte seine Verunsicherung durch rohes Lachen. „Sicher! Denn so oder so bist du der Verlierer. Der Scheißköter wird dir nur Ärger bereiten.“
Werner hatte den jungen Hund aufgehoben, besänftigend auf ihn eingesprochen und bis nach Hause getragen.
*
Im Feld hinter ihm wurde der Mais geerntet. Der gleichbleibende Sound des Maishäckslers, das Motorengeräusch des begleitenden Transportanhängers, in den der gedroschene Mais über ein Abtankrohr entladen wurde, hatte etwas Friedliches. Werner Jansen jedoch empfand die Maisernte als Vorbote für ein Ereignis, das in seinen Augen ein Verbrechen war.
Er neigte sich vor und lächelte zufrieden beim Anblick Leons, der dem „heulenden Ungeheuer" im Feld nicht die geringste Beachtung schenkte. „Bist ein gescheiter Hund. Hast schnell gelernt.“ Er tätschelte Leons Kopf.
Bei den Worten seines Herrn schaute Leon hoch.
Werner sah in braune Augen, sah das Vertrauen und empfand dieses Glücksgefühl, dass es ihm gelungen war, den Hund vor seinem brutalen Herrn zu retten. Liebte er ihn deshalb mehr als die anderen? Nur ein wenig, beruhigte er sein schlechtes Gewissen.
Dünne Dunstschleier, durch das Abtanken hervorgerufen, stäubten durch die Luft. Leon schnupperte, nieste und senkte die Schnauze dann auf die gekreuzten Vorderpfoten.
Nicht weit entfernt krachten Schüsse.
Leon sprang hoch. Sein Körper zitterte vor Erregung. Er trappelte hin und her, jaulte auf, erwartete das ausbrechende Wild.
Sein Herr beugte sich über ihn. „Ruhe.“ Die Hand zwang ihn sanft in die Haltlage.
Leon gehorchte, lag flach, den Kopf schräg geneigt, beobachtete er seinen Herrn. "Die Serienkiller sind unterwegs“, schnaubte Werner Jansen zornig.
Plötzlich aufgeregtes Rufen vom Feld her. Werner Jansen drehte sich um. Er sah, wie einer der Jäger sich mit erhobenem Arm dem Maishäcksler näherte und ihn aufforderte, anzuhalten. Werner Jansen wusste, was das zu bedeuten hatte. Er wandte sich ab. "Sie haben das Wildschwein nicht tödlich getroffen“, berichtete er aufgebracht seinem Hund. „Einen weichen Schuss nennen sie dass. Herrgott, selbst ihre Sprache hasse ich. Diese elende Verharmlosung.“
Ein Schuss! Gedämpfter. „Der Fangschuss. Wie gnädig", höhnte Werner Jansen. "Sie haben das arme Schwein erlöst oder wie es korrekt heißt, „das Stück liegt“. Das Stück! Es ist ein Tier, verdammt noch mal", wütete er.
Leon winselte leise. Werner Jansen atmete ein paar Mal tief durch und löste die angespannte Körperhaltung. „Alles gut, Leon. Alles gut. Dir passiert nichts. Er wird dir nie wieder etwas antun können.“
Jansens Stimme umgab Leon wie eine schützende Höhle. Träge legte er sich auf die Seite und nach einer Weile sanken die Augenlider herab.
Sirren transparenter Flügel, Etwas, das vor Leons Schnauze hin und her flitzte. Er schnappte, verfehlte, schnappte mehrmals blitzschnell. Die Wespe entkam. Leon spannte die Muskeln.
„Lass!“ Ein kurzer Befehl. Der vertraute Zischlaut am Ende.
Erneut hallten Schüsse.
Leon witterte den Hasen, bevor das Rascheln trockenen Grases seine Ohren traf. Er sprang auf, nahm aus dem Augenwinkel die Bewegung wahr und hetzte los. Die Leine rutschte widerstandslos von Jansens Handgelenk. Der Halt-Befehl war ein Flügelschlag und der nachfolgende hohe Pfeifton hallte wirkungslos über ihn hinweg.
Mit weiten Sprüngen jagte Leon dem Hasen nach. Der trockene Knall eines Schusses. Instinktiv knickte Leon in den Hinterläufen ein. Das prasselnde Geräusch, der brennende Schmerz, der sich seinem Gedächtnis eingeprägt hatte.
Der Schmerz blieb aus. Nur die Leine schleuderte hinter ihm her. Sie war vertraut. Keine Gefahr, auch wenn sie sich in Grasbüscheln verhakte, was Leon nicht aufhielt. Mit einem kräftigen Ruck befreite er sich und folgte stur dem verführerischen Geruch des Hasen. Um ihn herum abgeerntete Felder, die Spur frisch. Leon senkte die Nase und saugte sich auf der Spur fest. Einige hundert Meter weit verfolgte er die Fährte. Überquerte die Straße am Ende des Rundweges. Quietschen eines Autos. Häuser, auf der anderen Seite. Von einem Balkon aus verteidigte ein Hund laut bellend sein Revier. Leon trabte weiter. Der Hase war aus seinem Gesichtsfeld verschwunden, aber der Geruch hing über einem dicht bewachsenen Graben. Leon schnürte an einer Mauer entlang, folgte dann dem Graben, aus dem plötzlich der Hase hervorsprang. Leon stürmte los und wäre fast gegen die mit Stacheldraht versehenen Eisenstäbe eines Zufahrtstores geprallt, unter dem der Hase mühelos durchkroch. Leon stoppte, lief an dem Zaun auf und ab, bis ein bedrohlicher, stechender Geruch alle anderen Düfte überlagerte. Einige Hochlandrinder näherten sich und beäugten das seltsame Wesen neugierig.
Leon wich zur Seite, drehte um und trabte auf der eigenen Spur zu der Stelle zurück, wo er seinen Herrn verlassen hatte. Der Platz war leer, sein Herr auf Sichtweite nicht auszumachen.  Leon strich an der Bank entlang und der Geruch nach Blut stieg ihm in die Nase. Er senkte die Nase zu Boden und nahm den gleichen Geruch wahr. Er hob den Kopf, sog die Luft ein, in der er jetzt seinen Herrn witterte. Die Nase wieder am Boden folgte er vertrauten Duftpartikeln. Plötzlich brach die Spur ab. Leon war bis zu dem Maisfeld vorgedrungen. Er roch die reifen Körner, hörte Bersten und das Brechen der starken Maisstauden und empfing die stechende Ausdünstung eines Wildschweines. Leons Körper vibrierte. Loshetzen!
Das Krachen eines Schusses.
Er duckte sich. Pulverstäubchen wehten zum ihm, ein Gemisch verschiedener Düfte, aus denen er seinen Herrn wahrnahm und etwas anderes, bei dem sich Leons Nackenhaare aufstellten.
Er stand, hob die Nase in die Luft und ortete die Richtung, die ihn auf die Fährte seines Herrn brachte. Vorsichtig trabte er über einen abgeernteten Teil des Feldes, vermied die spitzen Strünke der Maiskolben, indem er in der Ackerfurche daneben blieb und stoppte plötzlich. Unsicher umkreiste er den Körper, der auf dem Boden lag. Er beschnüffelte das frische Blut. Stupste seinen Herrn an, der sich nicht rührte. Leon leckte das Ohr ab, kratzte mit der Pfote über den Rücken. Doch sein Herr blieb regungslos liegen. Schnuppernd nahm Leon den Totengeruch wahr, der ein Verhalten ihn ihm wachrief, mit dem er eine angenehme Erfahrung verknüpfte. Futter. Er setzte sich auf die Hinterhand und bellte, lautstark, ausdauernd, bis sein Meuteführer eintraf.
Dumpfe Erschütterungen auf harten Boden. Schweres Stampfen. Zweige knickten, dürre Halme raschelten. Freundlich tönte die Stimme. „Braver Hund.“
Der Klang war Leon so vertraut wie der Mensch, der nun vor ihm stand. Er schnüffelte an den Stiefeln, die nach geronnenem Blut und Aas rochen.
„Das einzige, was ich dir beibringen konnte. Weil es was zu fressen gab, unnützer Köter.“ Die Tonlage hatte sich verändert. Leon spürte die Bedrohung, die von dem Körper, der sich über ihn beugte, ausging.
Er duckte sich, winselte. Er sah die Hand auf sich zukommen. Er duckte sich tiefer, wedelte. Die Hand hielt rohes Hasenfleisch, das der Mensch vor Leons Nase hin- und herschwenkte. Instinktiv wollte Leon danach schnappen, aber er roch auch das Pulver, das Metall und den Schweiß, der Angst und Wut ausströmte.
„Nimm schon!“ Ungeduld unter der ruhigen Stimme.
Leon beschnupperte das Fleisch, zuckte zurück.
„Soll ich es dir in den Schlund stopfen!“ Unsicherheit und Wut.
Die widersprüchlichen Sinneseindrücke ließen Leon laut aufheulen.
„Halts Maul!“ Das Fleisch klatschte auf seine Schnauze.
Der intensive Geruch löschte die Verwirrung und der Instinkt zu fressen siegte. Leon schnappte zu und schlang es herunter. Im selben Moment traf ihn ein so starker Dunstschwall aus Feindschaft und Bedrohung, dass er jaulend aufsprang und flüchtete.